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Sexualtherapie heute und gestern

Sexualtherapie heute und gestern

Sexualtherapie
heute und gestern

Die wichtigsten Veränderungen der letzten 20 Jahre

Sexualtherapie heute: in den letzten 20 Jahren haben sich die Aufgabengebiete entscheidend verändert. Waren noch vor 20 Jahren Paare und mit ihren sexuellen Funktionsstörungen das Hauptklientel in der Sexualtherapie, so sind es jetzt vor allem EinzelklientInnen mit Themen wie sexuelle Orientierung, sexuelle Zwangsgedanken und sexuellen Missbrauchserfahrungen. Das bedeutet, dass sich auch Konzepte in der Ausbildung heutiger SexualtherapeutInnen deutlich verändern müssen.

Sexuelle Funktionsstörungen als der Klassiker in der Sexualtherapie der 60er und 70er Jahre

Mit den Forschungen von Masters und Johnson begann die klassische Sexualtherapie als ein medizinisches Verfahren in der Behandlung sexueller Funktionsstörungen: Ejaculatio praecox, Vaginismus, männliche und weibliche Unlust und Orgasmusprobleme.

Das übliche Setting waren Paarsitzungen, in denen das jeweilige Paar einem Therapeuten oder einer Therapeutin ausführlich über die aktuelle sexuelle Situation berichtete und der Therapeut/die Therapeutin dann sexuelle Übungen als Hausaufgabe bis zur nächsten Sitzung mitgaben.

Üblicherweise war das Ziel eine „Neuaufsetzung“ der Sexualität- daher begannen die Übungen mit einer Zeit völligen Verzichts auf sexuelle Handlungen, gefolgt von stufenweise eingeführten Berührungs- und Streichelübungen, die schließlich in die Wiederherstellung des gemeinsamen Koitus und des gemeinsam erlebten Orgasmus zielen sollten.

Ausschlussgründe für eine klassische Sexualtherapie

Bei dieser „Neuaufsetzung“ der Sexualität war selbstverständliche Voraussetzung, dass außerhalb der sexuellen Funktionsstörung keine weiteren psychischen Probleme vorliegen. So listen Reinhard Maß und Renate Bauer in ihrem Lehrbuch Sexualtherapie von 2016 folgende Ausschlussgründe für eine klassische Sexualtherapie als Paartherapie auf:

  • unvollständige medizinische Abklärung der körperlichen Symptome
  • Parallel laufende andere Psychotherapien bei einem oder beiden Partnern
  • Einnahme von Psychopharmaka
  • Vorhandene Außenbeziehungen mit weiteren Sexualpartnern
  • Aktueller Kinderwunsch
  • Partnerschaft hat erst relativ neu begonnen
  • Es gibt erheblichen Streit in der Partnerschaft
  • Es gibt Anzeichen für eine bevorstehende Trennung
  • Suchterkrankungen eines oder beider Partner
  • Psychische Störungen (schwere Depression, Manien, bipolare Störungen, Demenzen, Suizidalität, bedingt auch Persönlichkeitsstörungen, insbesondere Borderline und narzisstische Persönlichkeitsstörung)

Damit sind nach meiner Erfahrung nahezu alle KlientInnen ausgeschlossen, die mit einem sexuellen Symptom eine Psychotherapie suchen. Oder umgekehrt: Eine Praxis, die ausschließlich klassische Sexualtherapie für psychisch gesunde Paare mit sexuellen Funktionsstörungen anbietet, müsste die meisten behandlungssuchenden KlientInnen ablehnen und hätte es aus meiner Sicht wirtschaftlich unnötig schwer.

Themenfelder der Sexualtherapie im Wandel

Waren es vor 20 Jahren überwiegend Paare, meist im Alter von 40 und älter, die eine Sexualtherapie machen wollten, sind es heute vor allem junge Menschen, oft unter 30 oder sogar unter 20.

Grund dafür mag sein, dass heutige Paare über 40 deutlich weniger feste moralische Vorstellungen vom „Sex, wie er sein muss“ haben. Das christlich-katholische Ideal, das der Orgasmus bei Mann und Frau gleichzeitig und ausschließlich im Koitus erfolgend sollte, hat definitiv ausgedient. Die meisten Paare haben keine Schwierigkeiten damit, Orgasmen auch außerhalb des Koitus zu erreichen, und sehen die Gleichzeitigkeit auch nicht mehr als unbedingt erstrebenswertes Ziel an.

Außerdem haben heute die meisten langjährig zusammenlebenden Paare deutlich weniger Schwieirgkeiten, gemeinsam über ihre sexuellen Bedürfnisse zu sprechen, als das bei ihrer Elterngeneration noch der Fall war. Die Sprachunfähigkeit im Bereich Sex war zu Zeiten von Masters und Johnson noch typisch für fast die gesamte Bevölkerung (auch bei psychisch gesunden Menschen!). Und die Überwindung dieser Sprachunfähigkeit war lange Zeit ein großes Aufgabengebiet der Sexualtherapie- das aber in dieser Form heute nicht mehr besteht.

Wenn heute Menschen eine Sexualtherapie wünschen, dann stehen meist deutlich stärkere psychiche Störungsbilder im Hintergrund. Das zeigt auch ein Blick auf die Vortragsthemen auf den Kongressen der beiden großen sexualwissenschaftlichen Fachgesellschaften DGfS und DGSMTW in den letzten Jahren.

Typische Arbeitsfelder in der Sexualtherapie heute

Typische Anfragen nach einer Sexualtherapie sind die folgenden Themenfelder:

    • sexueller Interesseverlust im Zusammenhang mit einer depressiven Episode: Depressionen und damit implizit auch negative Gedanken über die eigene Sexualität haben insbesondere seit der Corona-Epidemie bei jungen Erwachsenen massiv zugenommen
    • Zwangsgedanken in Bezug auf die eigene Sexualität, z.B. homosexuelle Zwangsgedanken (HOCD), pädophile Zwangsgedanken (POCD), transsexuelle Zwangsgedanken (TOCD), Zwangsgedanken in Bezug auf die eigene Beziehung (ROCD)
    • Sexuelle Ängste und Versagensängste in Bezug auf die eigene Leistungsfähigkeit- insbesondere bei Männern mit hohem Pornokonsum in der Pubertät und falschen Vorstellungen über die menschliche Sexualität (Pornos werden als Lebenswirklichkeit interpretiert und nicht als „Märchen für Erwachsene“)
    • Sexualprobleme, verursacht durch Suchterkrankungen, insbesondere Alkohol und Cannabis
    • Sexualprobleme im Zusammenhang mit Persönlichkeitsstörungen, insbesondere Borderline, z.B. Nähe-Distanz-Problematik, übertriebene Eifersucht, unkontrollierte Wutausbrüche gegenüber dem/der Partner/in
    • Sexualprobleme als Folge von Missbrauchserfahrungen
    • Homosexualität und Coming out
    • Transgender und geschlechtliche Identität
    • Probleme in Bezug auf die eigene sexuelle Präferenz, insbesondere bei pädophiler Präferenz: die Arbeit mit pädophilen Straftätern entwickelt sich seit einigen Jahren immer mehr zu einer wichtigen Aufgabe im Bereich Sexualtherapie

    Fazit: Die Änderungen als Herausforderung an die psychotherapeutische Ausbildung

    Heutige SexualtherapeutInnen brauchen ein weit größeres Wissen um die gesamte Skala der Störungsbilder als noch vor 20 Jahren. Dabei sollten sie über ein Fachwissen verfügen, das sich inhaltlich nicht von psychologischen PsychotherapeutInnen unterscheidet und auf einer guten Fähigkeit zur Diagnostik nach ICD-10 bzw ICD-11 fusst und sich an den DGPPN-Leitlinien orientiert. Das Studienangebot der AKST bietet dazu eine umfassende Orientierung.

    Eine Ausbildung, die ausschließlich auf die sexuelle Beratung psychisch gesunder Paare abzielt, ist nicht mehr zeitgemäß.

    Wenn Sie Fragen dazu haben, freue ich mich über Ihre Mail an:

    michael@petery.eu

    Dr. Michael Petery